Ich mag Verschwendung. Nicht diese sinnlose, wenn jemand beim Zähneputzen das Wasser laufen lässt. Da werde ich nervös. Ein Pfund weggeworfene Tomaten drücken mir aufs Herz. Papier beschreibe ich von zwei Seiten. Ich rede auch nicht von den Champagnerschlachten irgendwelcher Halbberühmtheiten. Was ich meine, ist diese sinnliche Verschwendung, die der Herbst kennt. Als wolle er mit einer einzigen Birke erinnern: Der Winter wird lang, aber gräm dich nicht, ich zeige dir nochmal, wie Leben geht. Dann leuchtet sie mit den Ebereschen um die Wette, dass einem ganz schwummrig wird vor lauter Glanz. Und das alles ohne erkennbaren Nutzen. Der Sommer könnte ja auch direkt von grün zu grau wechseln. Alles befruchtet? Alles geerntet? Alles erledigt? Und aus. Aber so macht er es nicht. Er gibt noch einmal alles.
Höchstwahrscheinlich denken Birken nicht darüber nach, dass der Tod es ist, der ihr Kleid so wunderbar schneidert. Würden sie es dann noch anziehen? Oder würden sie stattdessen sich weigern, ihre Chlorophyllproduktion einzustellen, um mehr Sommer, mehr Grün, mehr Leben zu haben?
Als ich kurz vor seinem Tod zu meinen Opa fuhr, trank er einen Schnaps mit mir. Das war das erste Mal, dass wir das zusammen taten, und es war auch das letzte Mal. Er war alt und hatte Krebs. Es kam mir vor, als hätte er sagen wollen: Jetzt genießen wir noch mal das Leben. Bevor der Winter kommt.
Der Tod ist auch ein Verschwender. Er holt jeden. Viel zu junge, viel zu lebendige, viel zu geliebte, viel zu viele Leben. Vielleicht aber ist es auch ganz anders. Vielleicht ist er ein Sammler. Vielleicht sammelt er, so wie die Birke im Winter Kraft für das Frühjahr sammelt. Vielleicht sammelt er uns und reicht uns weiter an einen Frühling, der nicht enden wird. Ein Frühling, der hell und leuchtend ist. Ein Frühling, dessen Kleid uns zu Königen und Königinnen macht.
Und die Birke ist der Vorgeschmack.
erschienen in Welt der Frau, www.welt-der-frau.at (gekürzt)
Kommentar schreiben
Dorothee Anton (Mittwoch, 20 November 2013 10:43)
Liebe Frau Niemeyer
ich lese ihren Text und blicke dann in meinen Garten. Der Herbst leuchtet mir vielfarbig entgegen - er tut das Jahr um Jahr ohne zu überlegen, ob er wohl irgendwann alle Menschen erreicht mit seiner Botschaft. Er tut es einfach- in der Hoffnung, das einmal irgendwo ein Mensch aufschaut und aufatmet und sei es nur für einen winzigen Moment. Der Herbst ist ein nimmermüder Optimist. Heute schenk ich ihm mein Aufatmen.
freudenwort (Mittwoch, 20 November 2013 19:55)
Nimmermüde Optimisten mag ich sehr! Herzliche Grüße aus meinem Miniaturgarten.
Werner (Freitag, 22 November 2013 14:43)
Ja, so erleben wirs jedes Jahr aufs neue. Aber so schön besc hrieben hab ichs selten erlebt.
Danke!
(Den Text habe ich bei Theomix entdeckt, auch ihm Dank fürs Aufmerksam-machen.)
Theomix (Freitag, 22 November 2013 15:50)
Ich bedanke mich herzlich fürs Einstellen dürfen auf meinem Blog. Dieser Text ist fröhlich und hat zugleich Tiefgang. So etwas Gutes über den Tod habe ich selten bisher gelesen.