Pusten

Dies ist ein Plädoyer für den Schmerz. Ich glaube, er hat es nötig. Keiner mag ihn. Niemand will mit ihm gesehen werden. Keiner tröstet ihn. Damit wir uns richtig verstehen: Ich mag ihn auch nicht. Lieber wählte ich ein schmerzfreies Leben. Aber dann schneide ich mir beim Zwiebelhacken doch wieder in den Finger oder stoße mit dem Fuß gegen einen Stein.

Viele Leute meinen, wenn es einen Gott gibt, dürfte es keinen Schmerz geben. Da es aber Schmerz gibt, gibt es keinen Gott. Ich finde, das ist zu kurz gedacht. Wenn es keinen Schmerz gäbe, wäre die Welt noch lebensgefährlicher als ohnehin schon. Nehmen Sie das Beispiel mit der heißen Herdplatte: Wenn man, weil man keinen Schmerz empfindet, die Hand nicht wegzieht, ist sie schnell verschmurgelt. Eigentlich meint es der Schmerz also gut. Er ist ein Lehrer. Ich weiß, das ist ein schwieriger Satz. Gleich danach kommt der Satz: „Wer nicht hören will, muss fühlen.“ Aber der missbraucht den Schmerz.

Gott hätte sich ja auch entscheiden können, alle Gefahrenquellen auf der Erde zu beseitigen. Das hieße keine Herdplatten, keine Dreitausender, keinen Eisbären, keine Küchenmesser und auch keine Liebe. Wir lebten in einer wattierten Kiste. Wer will das schon? Offenbar hat Gott sich also entschlossen, den Schmerz in Kauf zu nehmen. Mitzuleiden. Des besseren Lebens wegen. Das geht so weit, dass Wunden zu seinen Erkennungszeichen gehören. Oder sind es mittlerweile Narben?

Narben sind ein Zeichen von Stärke. Sie erzählen davon, überlebt zu haben. Es soll Menschen geben, die lassen sich absichtlich Narben in die Haut ritzen. Sie finden das cool, ähnlich wie ein Tattoo. Merkwürdig, dass das bei seelischen Narben anders ist. Seelische Narben versteckt man lieber. Man kann das doof finden, aber interessant ist, dass niemand auf die Idee käme, zu seinem Partner zu sagen: „Du, verlass mich doch mal, dann habe ich fürchterlichen Liebeskummer und danach eine coole Narbe auf der Seele.“ Es klingt einfach besser, von einem Tiger angegriffen worden zu sein, als von einem Mann (oder einer Frau) verlassen. Dabei ist Liebeskummer zu überleben genau genommen die größere Leistung. Das mit dem Tiger fällt eher in die Kategorie Glück. Aber dem anderen nicht mehr hinterherzutrauern, nicht mehr zu hadern, nicht bitter zu werden und nicht hoffnungslos – das ist echte Heilungsarbeit. Die fängt da an, wo man sich die Wunde genau anguckt. Ich zum Beispiel kann kein Blut sehen. Aber wenn sich einer den Fuß aufschlitzt, dann schaue ich trotzdem hin, damit er nicht verblutet. Dann entscheide ich, ober er ein Pflaster braucht oder einen Krankenwagen. Ohnmächtig werden kann ich später. Bei Seelenschmerz ist das nicht anders. Weggucken nützt nichts. Eine Wunde muss atmen um zu heilen. Verdeckt oder versteckt man sie, entzündet sie sich. Es wird nur schlimmer.

Deshalb ist dies ein Plädoyer dafür, nicht immer die Zähne zusammenzubeißen, sondern seinen Schmerz zu zeigen. Da muss Luft dran. Vielleicht kommt dann auch mal jemand pusten.

 

(erschienen in Welt der Frau)

 

 

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Kommentare: 3
  • #1

    D. (Montag, 14 April 2014 21:36)

    Was für ein schöner Text!
    Bei Liebeskummer:
    Trostpflaster? Nicht steril genug.
    Wer fährt den Krankenwagen zu welcher Notaufnahme? :-))

  • #2

    Tatjana (Donnerstag, 17 April 2014 22:23)

    Autsch. Aua. Wie schön, wie wahr! Danke. Fohe, gesegnete Ostern und ein wunderschönes atmungsaktives Superheldenpflaster wünsche ich Dir!

  • #3

    *freudenwort (Montag, 28 April 2014 06:23)

    Danke! Superheldenpflaster sind super :-)
    Und eine Liebeskummernotaufnahme wäre mal eine sinnvolle Einrichtung!
    Schöne Ostern, schöne Grüße, Susanne

 

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