Ich bin Christin. So. Jetzt ist es raus. Ich denke, hier darf ich das sagen, ohne auf allzu großes Unverständnis zu stoßen. Ich bin keine von der radikalen Sorte. Die Evolution scheint mir grundsätzlich ein schlüssigeres Konzept als eine Welt, die in sieben Tagen fertig war. Ich missioniere nicht in Fußgängerzonen und von Teufelsaustreibungen halte ich wenig. Routinemäßigen Wunderheilungen stehe ich erst recht skeptisch gegenüber.
Trotzdem ist es mir peinlich. Wenn Leute mitbekommen, dass ich an Gott glaube, bin ich sofort geneigt, das zu entschuldigen. Ich bekräftige dann, dass ich ansonsten ganz normal/klug/reflektiert bin, mich schon mal betrunken habe und gern Karten spiele.
Der Satz „Ich bin Christin“ in etwa so sexy wie das Bekenntnis, Tweedhosen zu tragen. Im ungünstigsten Fall wird mir die Fähigkeit zu denken abgesprochen, dabei glaube ich, mein Gehirn funktioniert einigermaßen. Manchmal werden mir auch die Kreuzzüge zulasten gelegt oder der zweifelhafte Umgang mit Kirchensteuereinnahmen. Beides heiße ich nicht gut. Es ist nämlich definitiv nicht so, dass ich mit dem Gesamtprogramm „Christentum“ zufrieden bin. Aber ich bin auch nicht mit dem Gesamtprogramm des örtlichen Kinos zufrieden und möchte deshalb trotzdem das Filmeschauen nicht aufgeben.
Mir ist auch bewusst, dass die Bibel eine Menge merkwürdiger Zitate enthält, insbesondere, wenn man sie aus dem Zusammenhang reißt. Menstruierende Frauen zum Beispiel werden nicht gerade bevorzugt. Hin und wieder werden Ungläubige getötet. Beides finde ich falsch, das sage ich ganz klar.
Dennoch bin ich Christin. Und trotz allem bin ich das mit einem gewissen Stolz (bevor jetzt jemand Einspruch erhebt: den billige ich auch jedem Mitglied einer anderen Glaubensgemeinschaft zu, solange er ihn nicht als Legitimation benutzt, einem anders Denkenden den Kopf einzuschlagen.) Ich bin stolz darauf, einer Religion anzugehören, die keine Religion der Gewinner ist. Das Leben Jesu beginnt mit einem Desaster (unehelich, obdachlos, verfolgt) und endet in einem Desaster. Gott scheint keine Religion der Helden zu brauchen. Ich bin stolz, einer Religion anzuhängen, die das Leid nicht beschönigt und gar nicht erst verspricht, sie könne es verhindern. Die stattdessen sagt: Das stehen wir durch. Zusammen. Ich bin stolz, einer Religion anzugehören, die sich auf das Wort „Freiheit“ gründet, keinen Grund kennt, Menschen auszuschließen und in jedem Unsympath wie auch in jedem Flüchtling Gott sieht. Ich bin stolz auf eine Religion, die die Rache verbietet, gegen Genuss nichts einzuwenden hat, das Leben als schöne Sache preist und Macht nicht mit Unterdrückung verwechselt („Die Liebe ist die größte von allen“).
Das haben nicht immer alle verstanden. Das klingt regenbogenfarbiger als die Realität. Krieg und Missbrauch, Mauscheleien und Scheinheiligkeit gab es immer, und sie sind auch heute nicht zu leugnen. Aber ich überlasse ihnen doch nicht meine Religion. Und deshalb: bin ich Christin.
(erschienen in: Welt der Frau)
Kommentar schreiben
Elke (Sonntag, 10 Mai 2015 07:48)
Liebe Susanne !
Nachher halte ich einen Gottesdienst zur Jubelkonfirmation. Ich freue mich drauf. Gestern, beim dazugehörigen Kaffeetrinken, war es richtig schön gewesen. Und jetzt Deine wunderbaren Worte. In der nächsten Kirchenvorstandssitzung werde ich sie- natürlich unter Quellenangabe- vorlesen. Ich hänge am Tropf Deiner Worte. Sie verändern mich, verlebendigen mich und meine eigen Sprache in Predigten und Ansprachen. Du: meine Entwicklungshilfe.
Danke. Liebe Sonntagsgrüße von Elke
Amelie (Montag, 18 Mai 2015 07:50)
LIebe Frau Niemeyer,
Seit geraumer Zeit lese ich ihr Buch " soviel du brauchst " und bin einfach nur begeistert wieviele Gadanken; Worte; Ideen; durch ihren Kopf sprudeln und bin und andererseits traurig wieso ich nicht auf solche Ideen oder Gedanken komme. Klar man ist in seinem täglichen Laufrad gefangen oder so gefesselt dass man gar kein Kopf hat für solche Gedanken und sie zulassen könnte.
Ich danke ihnen von Herzen für ihr teilhaben lassen.
Liebe Grüße
Amelie
Susanne Niemeyer (Montag, 18 Mai 2015 09:53)
Danke für das Lob - das macht so einen Montag doch gleich beschwingter. Herzliche Grüße vom Schreibtisch!
Jan von Wille (Freitag, 29 Mai 2015 15:05)
Hallo Susanne, schön formuliert! Besonders gefällt mir: es fängt an mit einem Desaster und endete mit einem Desaster.
Ich hab mal gehört: Es fing an mit "Sehr gut" und wird enden mit einem "Sehr gut". Alles dazwischen ist wie wir wissen ziemlich kompliziert...
Mit ihrem frischen Schreibstil tragen Sie bestimmt zu manchen Aha-Erlebnissen bei.
Danke
jan