Das Jahr ist jung. Ich war auch mal jung. Ganz genau erinnere ich mich nicht mehr, aber ich nehme an, ich habe geschrien, wenn ich wütend war, gelacht, wenn sich ein freundlicher Mensch über mich beugte und dass ich inkontinent war, machte mir nichts aus. Meine Neugier war groß. Hielt man mir etwas hin, untersuchte ich es genau. Ich hielt es für selbstverständlich, dass eine Kastanie, ein Löffel oder eine Klorolle gleichermaßen ein Geheimnis bereit halten konnten. Zwischen Polizisten, Prostituierten und Pastoren machte ich keinen Unterschied. Wer lächelte, war gut.
Dann kamen Zwischenprüfungen, verdorbene Fischgerichte, Menschen, die einfach auf Nimmerwiedersehen verschwanden und ich wurde vorsichtiger. Ich glaube, so geht es vielen. Anfänge sind oft voller Zuversicht. Dann beginnt man zu verlernen: zu vertrauen, dass man aufgefangen wird, wenn man springt. Einen Stift anzusetzen, eine Blume, ein Haus, einen Löwen zu malen ohne zu denken: das kann ich nicht. Etwas tun ohne vorher zu fragen, ob es sich lohnt. Sein ohne übertriebene Scham. Es nicht peinlich finden, zu weinen. Einen so selbstbewusst eigenen Stil zu haben, der es erlaubt, eine lila Hose mit einem roten Pullover zu kombinieren.
Gott kam als Kinderseele zur Welt. Das ist merkwürdig. Er hätte diesen Schritt doch genauso gut überspringen können. Ein Gott, der in die Hose macht, kann schnell ein Autoritätsproblem kriegen. Trotzdem hat er sich in eine Krippe gelegt und sich den anderen überlassen. Die ihn wickeln, stillen, füttern. Die ihm zeigen, wie man geht, die ihn an sich drücken. Die ihn schützen vor dem Bösen, vor den Häschern und vor zu steilen Treppen.
Den Himmel, sagte er später, gibt es nur, wenn wir wieder wie Kinder werden. Wenn wir es wagen, klein zu sein, damit wir hineinkriechen können wie in eine Höhle. Weil der Himmel keine Gernegroße braucht und keine Alles-Berechner. Die Erde auch nicht.
Vielleicht wollte er es allen zeigen. Vielleicht wollte er vormachen, wie das geht: Mach dich verletzbar. Nur so bist da echt. Hab Vertrauen. Lass dich tragen. Rechne nicht. Greif zu, wenn sich dir etwas bietet (und lerne, dass du nicht alles haben kannst). Bleib neugierig. Verwirf das Einfache nicht, vielleicht birgt es einen Schatz. Schäm dich nicht für dein Dasein. Lache, wenn du lachen willst und weine, wenn du traurig bist. Vergiss die Wut nicht, sie gehört zu dir. Schlaf ist kein Zeichen von Faulheit. Miss dein Gegenüber nicht an seiner Kleidung (außer, sie glitzert sehr. Da kann man schon mal schwach werden.). Erlaube dir, keinen Brokkoli zu mögen. Fürchte das Scheitern nicht. Male, tanze, singe, wenn du willst. Frag, was du wissen willst. Wer nicht fragt, bleibt dumm. Spar dabei den Tod, das Ende der Welt (oder ihren Anfang), Wunder und andere Alltäglichkeiten nicht aus. Nimm deinen Körper für selbstverständlich. Es gibt dich nicht ohne ihn. Halte vieles für möglich.
erschienen in Welt der Frau
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Britta (Sonntag, 03 Januar 2016 10:12)
Liebe Susanne,
was für ein wunderbarer Text.
Vielen Dank und auch für dich ein Jahr, in dem vieles möglich ist.
Herzlichst
Britta
Bärbel Heike Schmidt (Dienstag, 12 Januar 2016 12:20)
Liebe Susanne, ich wünsche dir zauberhafte, glitzernde Tage im Schnee mit Schneeballschlacht und heißem Tee.
Und ich wünsche dir ein Jahr voller Verheißungen und Neugier und Spannung und danke dir für alle Aufmunterungen, das Lachen und auch die Tränen, die du schon aus mir rausgeholt hast.
Ich freu mich auf ein weiteres Jahr mit dir.