Tatort

Als Gott den Sonntag geschaffen hatte, machte er auch den Tatort. Dazwischen lagen ein paar Millionen Jahre. Das kam so: Gott schaute irgendwann im 20. Jahrhundert auf die Erde und sah lauter Einzelwesen. Sie hatten eine Menge zu entscheiden: in welchem Stadtteil sie wohnen, welche Yogarichtung sie praktizieren, ob ihr Essen vegan, vegetarisch oder paleo sein soll und worin der Sinn des Lebens besteht. Jeder wollte individuell sein, wogegen grundsätzlich nichts zu sagen ist, aber Gott in seiner großen Weisheit spürte ihre Sehnsucht nach Gemeinschaft. Das Gefühl, einfach so dazuzugehören. Ohne Eintritt. Ohne Aufnahmeprüfung. Ohne etwas leisten zu müssen. Ohne darüber zu diskutieren, ob man nicht doch etwas anderes machen könnte. Einmal in der Woche wollten sie das Gefühl haben, am richtigen Platz zu sein, weil der Nachbar und die Kitaleiterin und Oma genau dasselbe tun. Einmal in der Woche wollten sie Teil eines kollektiven Rituals zu sein. „Sie könnten in die Kirche gehen“, schlug einer der Engel vor und es klang irgendwie vorwurfsvoll. „Sonntags, immer um zehn.“ Gott nickte. Aber er war trotz allem auch Pragmatiker. „Viele trauen dem nicht. Sie fühlen sich dort nicht zu Hause. Deshalb haben sie sich den Tatort gesucht.“ „Einen Krimi?“ „Das spielt keine Rolle. Sie haben das Gefühl, wenigstens einmal in der Woche am richtigen Platz zu sein. Das gefällt mir.“ Der Engel schüttelte den Kopf. Dass der Allmächtige immer so unkonventionelle Wege gehen musste. Wo würde das noch hinführen?

 

Kann man auch hören: NDR 2 Moment mal

 

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Kommentare: 7
  • #1

    Gerald (Dienstag, 12 April 2016 08:26)

    Liebe Susanne,
    so wie es eine Anderer-Advent-Kalender-Gemeinde gibt, gibt es offenbar auch eine Tatort-Gemeinde. Der Gedanke gefällt mir. Schließlich ist mir das (gemeinsame) Tatort-gucken heilig und ich reagiere allergisch bzw. gar nicht auf Anrufe zu dieser Zeit (wie kann man es wagen, in diesem Zeitraum anzurufen?). Was kommt als nächstes? Die Fussball-EM-2016-in-Frankreich-gucken-Gemeinde? Ich bin dabei....;-)
    Grüße
    Gerald

  • #2

    *freudenwort (Mittwoch, 13 April 2016 07:42)

    Lieber Gerald,
    geht mir auch so :-)
    Bei Fußball bin ich raus, aber es gibt bestimmt auch die Morgentee, Heute-Show oder Schwedengemeinde - jenseits von Ikea...
    Herzlich, Susanne

  • #3

    Netty (Freitag, 15 April 2016 18:59)

    Warum nicht mal die Bibel zur Hand nehmen...es heisst, sie soll ein Brief von Gott sein. Dann brauch hier auch keiner Gott interpretieren und philosophieren. Aber anscheinend verkauft es sich gut.

  • #4

    *freudenwort (Freitag, 15 April 2016 20:31)

    Hallo Netty,
    ehrlich gesagt, klingt dein Kommentar für mich etwas sonderbar. Wie eine Unterstellung, ich würde keine Bibel lesen. Hiermit beruhige ich dich: Ich nehme sie oft zur Hand und lese sehr gern darin. Die Geschichten inspirieren mich zu meinen Texten. Ich finde übrigens, man kann noch sehr viele Bücher über die Bibel schreiben - so viele Anregungen bietet sie. Ich mache dann mal weiter...

  • #5

    Netty (Montag, 18 April 2016 21:54)

    Das sollte kein Angriff sein, Susanne,

    Ich finde es gut, dass du in der Bibel liest und dir Gedanken über Gott machst. Es ist schön, sich vorzustellen, wie Gott wohl denkt oder handelt.

    Für mich ist die Bibel die absolute Wahrheit und darum gebe ich zu bedenken, ob durch bestimmte Aussagen nicht das Gottesbild verwässert wird. Gott, dessen Name übrigens Jahwe oder Jehova ist, vereint Menschen. Doch den Tatort als Ersatz für biblische Belehrung zu sehen, nur weil die christlichen Kirchen leer sind?. Warum sind sie leer? Weil die Menschen keine Antwort auf die wichtigen Lebensfragen bekommen. Sie hungern geistig und möchten Gott eigentlich nahe sein. Ob der Tatort sie ihm näher bringt? Ich bezweifle das. Aber schön, dass die Menschen noch was zusammen machen, das ist allerdings wahr.

    Ich bin auf deine Seite gekommen, da ich deine Überlegungen im NDR zum Thema: Ist Gott allmächtig? gehört habe. Nur weil Gott anscheinend nichts tut, heisst das nicht, dass er es nicht könnte. Ich habe viele Bibeltexte dazu im Kopf, dass er allmächtig ist und unsere Probleme in einem Nu lösen könnte. Und ich habe auch anhand der Bibel erfahren, warum er viel zulässt und das er bald etwas ändern wird. Etwas anders kann man von einem liebevollen Schöpfer auch nicht erwarten. Gott ist Liebe sagt die Bibel. Und ein liebevoller Gott kann und wird sich das hier auf der Erde nicht länger anschauen.
    Und es mag für viele wie eine Krücke wirken, Gott als allmächtig anzusehen. Aber jemand, der alles gemacht hat, ist für uns einfach allmächtig. Er weiss zumindest, wie wir funktionieren und wie wir glücklich werden können. Das weiss ja schließlich ein Autobauer z.B. auch.

    Das musste ich einfach mal loswerden. Sorry für die Offenheit! Sei mir nicht böse.

  • #6

    XXX (Montag, 18 April 2016 23:46)

    Tatort ist in manchen Kreisen Kult, und Kult bedeutet Rituale. Und das ist es wohl, was hier zählt, oder? Das feste Sonntagsabend-Ritual, mit netten Leuten den Tatort zu gucken, mag manche Freundeskreise zusammenhalten. Es geht vielleicht gar nicht um den Tatort, sondern um das Ritual, und ums Dazugehören, und ums Wir-sind-eine-feste-Runde und uns verbindet etwas. In diesem (soziologischen) Sinne sehe ich auch viele Parallelen zum Gottesdienst, der ist auch so ein festes Ritual, wo man bestimmte Leute in bestimmten Formen trifft.
    Inhaltlich fände ich die Tatort-Parallele zum Gottesdienst auch schon eher banal und trivialisierend - aber so muss man es ja gar nicht lesen. Denn es geht auch so: Nicht der Tatort und der Gottesdienst werden verglichen, sondern das abstrakte Ritual des gemeinsamen, gemeinschaftlichen Tuns in der Gruppe......

  • #7

    *freudenwort (Dienstag, 19 April 2016 16:38)

    Hallo Netty,
    so kann ich mit deinem Beitrag schon etwas mehr anfangen.
    Für mich ist die Bibel Wahrheit, aber keine absolute Wahrheit. Ich glaube, "Absolutes" ist eine gefährliche Sache, weil die Annahme, etwas sei absolut Streit und Kriege auslöst. Ich bin etwas vorsichtiger und sage mit Heinz Zahrnt: "Vielleicht ist es wahr." Dieses Vielleicht hat einen großen Zauber und eine große Kraft für mich. Sicher kann ich sagen, dass ich etwas erlebe, das ich Gott nenne, so wie es in der Bibel viele Menschen vor mir getan haben. Ich glaube, weil Gott Gott ist, können wir nie das Ganze erfassen, sondern sehen immer nur einen Teil. Du kennst bestimmt die Stelle im 1. Korintherbrief: "Jetzt erkenne ich Stückwerk, dereinst werde ich erkennen so ganz, wie ich erkannt bin."
    Ist Gott allmächtig? Ich glaube, dass er uns ermächtigt. Wir sind der Mund für seine Worte, wir sind die Hände für seine Welt.
    Und was den Tatort anbelangt: Als existenziellen Ersatz sehe ich ihn nun auch nicht. Sondern eher als das, was XXX beschreibt: den Wunsch und die Sehnsucht, dazuzugehören und am richtigen Ort zu sein. Warum sollte nicht auch dort Gott sein?

 

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