Ich stelle mir das so vor: Als Gott fertig war mit der Welt, als alle Blumen, Goldkarpfen, Täler und Windmühlen an ihrem Platz waren, zog er sich ein bisschen zurück, damit der Mensch Raum zum Leben hatte. Gott wollte schließlich nicht aufdringlich sein. Er hatte alles schön gemacht zu seiner Zeit und die Uhr auf „ewig“ gestellt.
Dann kam der Mensch. Er ging hinaus in die Welt, genoss Butterblumen und Pingpongspiel, lobte das Blau des Himmels und die Erfindung der Liebe und gab sich allerlei Vergnügungen hin. Er baute Häuser, zündete Kaminfeuer an, komponierte Opern und strickte Pullover. Es gab so viele wunderbare Dinge zu tun, mehr als man in einem einzigen Leben je schaffen könnte. Gott freute sich darüber, zeigte es doch, dass er mit der Erschaffung der Welt genau richtig gelegen hatte. Irgendwann begann er sich allerdings zu fragen, ob er sie eventuell zu gut gemacht hatte. Der Mensch erinnerte sich nicht an ihn. Er war zu beschäftigt. Gott lag es fern, dem Menschen bösen Willen zu unterstellen. In gewisser Weise trug er ja selbst die Verantwortung dafür. Er hätte die Welt schließlich auch langweilig machen können. „Da müssen wir nachbessern“, murmelte Gott und stellte eine große Kiste auf die Erde.
„Was ist das?“, fragte der Mensch. „Weiß nicht“, antwortete ein anderer. Sie umrundeten die Kiste und fanden einen Aufkleber. „Da steht ‚heilig’ drauf.“ Neugierig schauten sie hinein. In der Kiste war etwas, das aussah wie Goldstaub. „Voll schön! Davon nehme ich was mit!“ Die beiden stopften sich die Taschen voll und alle anderen taten es ihnen nach. Dann liefen sie nach Hause, erfreut über ihren wertvollen Fund.
Aber ach! Als sie den Staub zuhause hervorholten wollten, reichte ein Hauch, und er verteilte sich in alle Himmelsrichtungen. Das Heilige verschwand. Niemand konnte es festhalten. Der Mensch war enttäuscht. Er murrte. Eine so schöne Sache, kaum hatte man sie, schon war sie wieder entfleucht? Das nahm der Mensch übel. Frustrationstoleranz war noch nie seine Stärke.
Doch schon bald entdeckte die erste ein Glänzen. Dann der zweite. Man brauchte nur aufmerksam zu schauen, dann war es da: Es lag in der Stunde des Schlafs. In einem Lied. Es fand sich in dem Moment des Wiedersehens. Es lag auf einem alten Bild. Auf dem Gesicht eines Krankenpflegers. Man konnte es entdecken in einem einzelnen Wort. In einer Erinnerung. Im Schweigen einer Landschaft. Beim Teilen von Brot. Manchmal war es da, wenn alles passte. Und manchmal, wenn man am wenigsten damit rechnete. Es erhellte die Sonne. Und es brachte ein Glimmen in die Dunkelheit. Jeder konnte es an einem anderen Ort finden, in einem anderen Moment, sogar in einer anderen Sache. Aber immer war es, als würde sich für eine Millisekunde der Himmel öffnen. Es hob den Mensch über den Alltag hinaus. Überall konnte es aufblitzen und überall konnte es erinnern: Hier ist Gott.
in Welt der Frau 11/16
Kommentar schreiben
Gerald (Montag, 21 November 2016 12:56)
Liebe Susanne,
vielen Dank. Eine starke Geschichte! Darum geht es: aufmerksam bleiben für die besonderen Momente....