In letzter Sekunde kam der Engel.
Peter Simonsen ist sechsundvierzig Jahre alt. Den Fischladen der Eltern hat er hinter sich gelassen. Weil er Coach werden wollte. Was die Leute immer noch sonderlich finden, weil man das Wort kaum aussprechen kann und die Alten denken, er verkaufe jetzt Sofas. Wie man ein Sofa einem Fisch vorziehen kann, verstehen sie nicht. Wenn es Spitz auf Knopf steht, kann man auch auf einem Stuhl sitzen, während ein Fisch immer satt macht. Peter Simonsen hat es aufgegeben, sich zu erklären. Warum man wegzieht, muss man hier oben begründen und fest steht von vornherein: Es gibt keinen Grund. Wer ein Haus hat, gehört hierher. Peters Elternhaus steht seit einhundertsiebzehn Jahren hinterm Deich und der Liguster ist mittlerweile hoch genug, um den Wind zu brechen. Das Boot liegt im Hafen. Schollen wollen die Leute immer, besonders die Touristen. Schön mit Butter und Krabben obendrauf. Eine Schande, da einfach auszusteigen. Vaters vorwurfsvolles Schweigen lässt Peter Simonsen bis heute nicht los.
Als kleiner Junge ist er immer mit raus aufs Meer. Da konnte er noch kaum laufen. Mit vollen Netzen sind sie zurückgekehrt. Er liebte die Gischt und den Wind. Angst hatte er nicht. Das war das Wichtigste, keine Angst zu haben. Aber Respekt. Den würde der Junge noch lernen, dachte der Vater. Bloß erstmal keine Angst haben, der Rest fügt sich. Der kleine Junge war so voller Bewunderung für den Vater, dass es schmerzt. Dass es heute noch schmerzt, daran zu denken. Wie konnte er ihn so enttäuschen?
Er hat ihn verlassen. Verraten hat er ihn und alles, was der Vater aufgebaut hat und weitergeben wollte.
»Hast du nicht«, sagen die Freunde. Aber sie wissen nicht, wie es ist. Es gibt ein Foto von ihm mit viel zu großer Fischermütze. Da steht er vorm Boot und hält einen Kabeljau in die Kamera, größer als seine beiden Arme zusammen. Sein Haar ist zerzaust und die Hand des Va- ters liegt auf seiner Schulter. Das Bild stand all die Jahre auf der Kommode in der Stube. Er weiß nicht, was damit geschehen ist.
Vater ist tot. Er könnte befreit sein. Aber er ist es nicht. Den Vater hat er beerdigt, aber seine Enttäuschung hat er nicht beerdigt. Sie hockt in seinem Zimmer und sieht ihn vorwurfsvoll an. Jeden Tag. Sie beherrscht ihn. Und er ist ganz klein und verzagt.
»Du bist verrückt«, sagen die Freunde und lachen. »Sieh dich an – du hast Erfolg! Du hast dir etwas Eigenes aufgebaut. Was kümmert dich die Vergangenheit?« Sie verstehen nichts. Ihre Eltern sind Lehrer und Rechtsanwältinnen und Therapeuten. Die wissen, was ein Coach ist.
Die Enttäuschung hat ihn in Ketten gelegt. Und die Schuld, so ganz genau kann er das nicht trennen. Sie bewacht ihn. Der Abstand zu den Freunden wird immer größer. Niemand kann sich ihm nähern. Sie sind draußen. Jenseits der Mauer. Noch lassen sie nicht locker. Sie rufen an. Sie fragen, wie es ihm geht. Sie laden ihn ein. Die Freunde sorgen sich. Sie versuchen ihn zu erreichen. Er ist sicher: Das wird aufhören. Die Enttäuschung hat gute Wachen. Vier zu seiner Rechten: Du hast ihn verraten. Du hast das Erbe deines Vaters verraten, flüstern sie. Vier zu seiner Linken: Wer hoch hinauswill, wird tief fallen. Sieh, wohin das führt, flüstern sie. Vier in seinem Rücken: Was du bist, verdankst du ihm. Hast du das vergessen? Vier vor seinem Angesicht: Was glaubst du, wer du bist? Nichts, als ein kleiner Fischer.
Die Freunde sind in großer Sorge um ihn. Wenn man nur etwas tun könnte. Wenn sie nur helfen könnten. Aber sie dringen nicht zu ihm vor. Und weil sie wenig Erfahrung damit haben, wie man einen Gefangenen befreit, bleibt nur Hoffen und Beten. Das ist nicht viel. Aber besser als nichts.
Am Vorabend seines siebenundvierzigsten Geburtstags ist Peter Simonsen allein. Er will nicht feiern. Er wüsste nicht, was. In der Wohnung ist es dunkel. Er liegt auf dem Sofa und schaut in die Schwärze. Sie ist überwältigend. In diesem Moment kommt es ihm vor, als würde er sich nie mehr bewegen können. Niemals mehr. Er schließt die Augen. Wahrscheinlich schläft er ein.
Als der Engel in seine Gedanken tritt, wird es hell. Das ist das erste, was geschieht: dass es hell wird. Dann stößt der Engel ihn in die Seite. Es ist ein heftiger Stoß. Er scheint nicht zimperlich zu sein. »Wach auf«, ruft er. »Komm zu dir!« Peter will gar nicht zu sich kommen, aber er blinzelt trotzdem. Der Stoß tat weh.
»Steh auf«, sagt der Engel und es klingt wie ein Befehl. Peter will ihm die Wachen zeigen, er will ihm zeigen, dass er unmöglich aufstehen kann. Aber verwundert stellt er fest, dass sie schlafen. Dass die Stimmen schweigen. Er nähert sich ihnen vorsichtig, aber: Nichts. Keine Regung. Da fallen die Ketten von ihm ab.
»Zieh deine Schuhe an«, befiehlt der Engel. »Wird Zeit, dass du hier rauskommst.«
»Aber«, sagt Peter.
»Nichts aber«, sagt der Engel.
Da steht Peter auf. Der Engel sieht ihm geduldig zu. »Den Mantel«, erinnert ihn der Engel. »Nimm den Mantel. Der schützt dich.«
Mantel, denkt Peter. Mantel ist gut.
»Und jetzt folge mir.«
Peter blickt sich um. Von der Enttäuschung keine Spur. Hat sie sich versteckt? Für gewöhnlich lauert sie immer irgendwo.
»Lass sie«, sagt der Engel. »Wir gehen jetzt raus. Ins Leben.«
Peter stolpert aus seiner Gefangenschaft. Er weiß nicht, wie ihm geschieht. Er weiß nicht, ob er wacht oder träumt. Das eiserne Tor der Schuld öffnet sich. Der Engel führt ihn hinaus. Niemand stellt sich ihnen entgegen. Nicht mal der Vater.
Es ist fünf Uhr morgens. Peter Simonsen schlägt die Augen auf. Es ist hell. Die Vögel erwarten ihn. Der Engel ist verschwunden. Ist das wahr, denkt er oder habe ich geträumt?
Er weiß es nicht. Er weiß nur: Er ist frei.
Wie das zugegangen ist, kann er keinem erklären.
aus: Fliegen lernen. Engelsgeschichten aus der Bibel. Illustration: Ariane Camus
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Nachtschwärmer (Samstag, 15 September 2018 22:18)
Einfühlsame Adaption von Apostelgeschichte 12. Hätte ich gerne früher gelesen. Danke.
berlinensis (Montag, 17 September 2018 19:52)
Wunderbares Buch mit tollen Geschichten, habe es gerade ausgelesen. Mein Favorit: die Lichterbrücke.
Danke