Berühr mich (nicht). Noli me tangere

Er ist tot. Mausetot. Auch, wenn sie es nicht wahrhaben will. Sie haben ihn in ein Grab gelegt, hierzulande sind das Höhlen. Sie werden mit einem Stein verschlossen. Eher einem Fels. Daran gibt es nichts zu rütteln. Seit drei Tagen liegt er da drin, eine ganze Ewigkeit also. Als Magdalena den Friedhof betritt, ist es noch früh. Der Horizont ist schwarz, nur ein paar Vögel versuchen, die Nacht zu verscheuchen. Auf dem Gras liegt Tau. Sie kann nicht sagen, was sie hier will. Warum sie gekommen ist. Hauptsache nicht länger herumsitzen und warten. Warten, dass ein Wunder geschieht. Sein Grab liegt ganz hinten, zwischen den Olivenbäumen. Ein schöner Ort zu Lebzeiten. Dort hätte es ihm gefallen, denkt sie und spürt den Stich, weil nichts mehr so ist, wie es normal war. Sie können sich nicht mehr verabreden, Brot und Wein auspacken, reden und lachen. Das Lachen fehlt ihr am meisten.

Ihre Füße streifen die feuchten Gräser. Jetzt müsste sie gleich da sein. Verunsichert bleibt sie stehen. Hat sie sich verlaufen? Nein. Da ist der Olivenhain, dort ist die Höhle. Nur der Stein ist weg. Dieser Fels. Jemand hat ihn zur Seite gewälzt, als hätte ein Riese seine Hände im Spiel gehabt. Die Höhle liegt offen und schwarz vor ihr. Sie schrickt zurück und zögert, aber dann setzt sie einen Schritt ins Dunkle. Dann noch einen. Ihre Augen müssen sich erst an die Schwärze gewöhnen, doch es bleibt dabei: Sie sieht nichts. Das Grab ist leer. 

Magdalena stürzt hinaus, kopflos, wo haben sie ihn hingebracht? Tiefstehende Sonnenstrahlen blenden sie. Die Vögel halten den Atem an. Da hört sie ihren Namen. „Magdalena!“ Sie wendet sich um, eine halbe Drehung – und sieht ihn. Seine Augen leuchten, ihr Herz macht einen Sprung. Schon will sie zu ihm laufen, will ihn in die Arme schließen, doch er hält sie zurück: „Berühr mich nicht.“

 

Ich schrecke hoch. Im Zimmer ist es dunkel, meine Hand tastet nach dem Wecker. Zehn nach vier. Kein Olivenhain, sondern meine Zwei-Zimmer-Wohnung im dritten Stock. Es ist Woche vier der Pandemie, ich spüre schlafwarme Haut und denke: Ich will berührt werden. Nicht immer und nicht überall, ich bin nicht der Küsschen-hier, Küsschen-da-Typ. Aber Freundinnen würde ich gern umarmen. Dem Berater bei der Bank die Hand geben. Mit Freunden die Köpfe zusammenstecken, Schulter an Schulter sitzen. Und nun träume ich ausgerechnet in der Osternacht diesen Traum, und nicht mal der hat ein Happy End. Dabei habe ich eigentlich nicht viel übrig für die Hollywoodfilme mit ihren Geigen am Schluss, aber jetzt könnte ich ein Happy End wirklich brauchen. 

Einmeterdreiundachtzig entfernt, am Fußende des Bettes sitzt Jesus und nickt: „Ich auch...“ 

 

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Am Sonntagmorgen, Deutschlandfunk

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Kommentare: 2
  • #1

    Dorette Volkenandt (Sonntag, 11 April 2021 14:52)

    Liebe Susanne, Wort, Klang, Ton, das alles tut sehr gut. Ich kann es immer wieder hören und finde neue Nuancen und ich lasse mich wecken für die Zukunft und das Unterwegs-Sein. Vielen Dank für diese 12 Minuten Lebenskraft. Lg Dorette

  • #2

    Kathrin (Sonntag, 11 April 2021 21:33)

    ..ich habe heute Morgen DLF angeschaltet und war in dieser Sendung (bin ich sonst nie so früh...)
    Wie wunderbar der Bogen von der Pandemie zu berühr mich nicht, einander lassen , sich berühren lassen mit Distanz, es zu leben und nicht Verstandsmäßig einzuordnen, begehn, fühlen und lassen...
    Danke für deine anregenden 14 Minuten (ich habe es im Laufe des Tages zum 3. mal gehört :-)

 

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