Als Adam und Eva einander kennenlernten, war alles unkompliziert. Hatte Adam einen Bauchansatz? Waren Evas Beine rasiert, lag ihr Bodymassindex im grünen Bereich? War Adam ein echter Mann, war Eva eine richtige Frau? Wir wissen es nicht. Alles, was berichtet wird, ist: Sie waren nackt und schämten sich nicht. Offenbar gab es nichts zu verheimlichen und nichts zu retuschieren. Sie waren, wie sie waren, und das war gut.
Anfang zwanzig wurde ich zum ersten Mal mit den Haaren auf meinem Körper konfrontiert und der Ansage, dass sie da nichts zu suchen haben. Bislang hatte ich sie zur Kenntnis genommen wie meine Ohrläppchen und meinen linken kleinen Zeh. Sie waren eben da, benötigten aber keine besondere Aufmerksamkeit. Auf einmal wurden sie peinlich. Ich lernte, mich zu rasieren und mich zu schämen, wenn ich es vergaß. Heute gibt es in sozialen Netzwerken ernsthafte Diskussionen darüber, wie schlimm es ist, wenn Frau (zuweilen auch Mann) Körperhaar zeigt. Und nicht nur darüber – auch über die Lücke zwischen den Oberschenkeln und die Optik der Schamlippen kursieren Schönheitsvorgaben. Bodyshaming nennt man die Ansage, wenn nicht alles passt.
Scham ist ein fieses Gefühl. Es suggeriert: Du bist nicht richtig. Du gehörst nicht dazu. Wie kannst du es wagen, dich so zu zeigen? Körperbehaarung ist da noch ein vergleichsweise kleines Problem. Man kann sich schämen, arm zu sein, die Verhaltenscodes für eine bestimmte Gruppe nicht zu kennen, keine Kinder oder zu viele Kinder zu haben, den falschen Beruf auszuüben und „nur“ Putzkraft zu sein. Menschen schämen sich, gemobbt oder missbraucht worden zu sein. Man kann sich schämen, da zu sein...
Scham ist ein ambivalentes Gefühl. Zu viel davon tut nicht gut – es macht uns kleiner, als wir sind. Zu wenig davon tut auch nicht gut – es macht uns größer, als wir sind. Scham ist die innere Stimme, die sagt: Du bist nicht Gott. Brauchst du auch nicht zu sein.
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„Der liebe Gott sieht alles“, habe ich irgendwann gehört. In einem Kinderlied aus den 1970ern heißt es: „Pass auf, kleines Auge, was du siehst! Pass auf, kleiner Mund, was du sprichst! Pass auf, kleine Hand, was du tust! Pass auf, kleines Herz, was du glaubst! Denn der Vater im Himmel schaut herab auf dich…“
Gott als großer Stalker. Als verlängerter Arm irdischer Moral: Gott sieht, wenn du auf Mama und Papa wütend bist. Wenn du Kekse aus der Dose klaust. Gott sieht, wenn du heimlich rauchst, wenn du masturbierst, wenn du davon träumst, deinen Schwarm aus der Nachbarklasse zu küssen. Gott sieht all deine Gedanken. Über allem schwebt das Damoklesschwert der Scham. Denn wie wahrscheinlich ist es, einen solchen Gott zufriedenzustellen?
Ich glaube nicht, dass Gott ein Aufpasser ist. Ich glaube auch nicht, dass Gottes Blick beschämt. Er richtet auf.
Adam und Eva haben viele Nachkommen. Sie sind Allerweltsmenschen und tragen unsere Namen. Adam ist ein Angsthase. Eva will endlich aufhören, ihre Körperhaare zu entfernen. Simon wohnt im Nachbarhaus und liebt Joschua. Werner singt im Kirchenchor und träumt manchmal von Sachen, die er keinem erzählen würde. Elisabeth träumt mit 79 immer noch von Sex – und schläft mit einem jüngeren Mann. Klaus weint, wenn er den Soldaten James Ryan sieht und wenn er im Stadion die Nationalhymne singt. Esther kocht für sieben Enkel und weigert sich, zur Sportgruppe zu gehen. Ben pflückt Blumen und spielt gern Paintball. Janne baut lieber ein Bücherregal anstatt zu bügeln. Michael träumt davon, Michaela zu heißen. Christiane ist es manchmal unangenehm, einfach nur Mutter zu sein und liebt es trotzdem. Kemal will der Stärkste sein und dennoch zärtlich. Laya wird Physikerin und kauft Kuchen eingeschweißt im Supermarkt. Oliver neigt zur Hochstapelei und besitzt gleichzeitig eine gute Portion Selbstironie. Maren liebt Tom und liebt Yasmin.
Und für nichts davon, aber auch für gar nichts davon brauchen sie sich zu schämen.
Weil ein wohlwollender, zutiefst freundlicher Blick auf ihnen ruht, der sagt: Du bist richtig. Dieser Blick gilt jedem Menschen, und wer das vergisst, kann sich erinnern, wenn das Gefühl, falsch zu sein, groß ist: Du bist sehr gut.
Ganzen Artikel lesen oder hören: Am Sonntagmorgen. Deutschlandfunk
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Lydia (Dienstag, 21 September 2021 20:53)
Liebe Susanne,
ich hatte den Beitrag bereits bei DLF gehört und wollte mich also schon vor Wochen bei dir für diese Worte und Gedanken bedanken. Ganz geschäftig war ich noch in den ersten Minuten und dann habe ich mich doch hingesetzt und einfach zugehört. Weil ich sein darf, wie ich bin und das genügt. Danke für diese wichtige Erinnerung.
Herzlich,
Lydia
Dorothea (Sonntag, 19 Dezember 2021 09:49)
Danke, die Würde leuchtet wieder auf und ich staube sie nach und nach wieder ab das sie mir leuchtet