Drinnen

Vergesst nicht, dass euer Körper ein Tempel des Heiligen Geistes ist, der in euch wohnt.

Die Bibel, 1. Korinther 6, 19-20

 

Auf der Suche nach Gott tritt sie in die Kirche. Die Tür ist offen. Drinnen brennen Kerzen und es riecht nach Nelken, die jemand auf den Altar gestellt hat. Sie setzt sich. Lange war sie nicht mehr hier. Doch schon bald tut ihr auf der harten Bank der Rücken weh. „Das musst du aushalten“, ermahnt sie sich, aber vor lauter Aushalten vergisst sie, wonach sie sucht, und nach einer halben Stunde geht sie unverrichteter Dinge nach Hause.

Gott hat sie sich immer erhaben vorgestellt. Einer, der in einem Haus wohnte, dessen Säulen in den Himmel ragen, muss einfach erhaben sein. Gold ist sein Kleid. Ihre Kleider dagegen hängen wie Säcke an ihrem unförmigen Körper. Das hat ihre Mutter mal gesagt, und sie hat es nie vergessen. Obwohl es schon Jahrzehnte zurückliegt. Heute sieht sie auf Instagram Pastellfotos lichtgefluteter Frauen, deren feingliedrige Hände einen Becher Kräutertee mit dem schönen Namen „Seelenzauber“ umfassen. Manchmal lächeln sie auch aus einer komplizierten Yoga-Pose entspannt in die Kamera. Dazu posten sie das Hashtag #Selbstliebe, als sei es das Normalste von der Welt. Ihr ist das fremd. Sie würde wetten, dass ihre Mutter das Wort nicht mal kennt. „Ich bin nicht würdig, dass du eingehst unter mein Dach…“, murmelte sie Woche für Woche. Die Hände gefaltet, den Kopf gesenkt. Selbstliebe klingt verdächtig nach Eitelkeit, denkt sie. Eine der Hauptsünden, hat sie gelernt. Die von Gott ablenken.

In dieser Nacht träumt sie, dass sie mit Gott verstecken spielt. Auf einmal ist sie wieder Kind in ihrem rotgepunkteten Lieblingsrock. „Mäuschen, sag mal Piep!“, ruft sie, und Gott ruft „Piep!“ Aber sie kann Gott nirgends finden, nicht hinterm Sofa, nicht unterm Bett, nicht im Schrank. „Näher“, flüstert Gott, „viel näher“, und die Stimme scheint eindeutig aus ihrem Bauch zu kommen. 

Was man für einen Unsinn zusammenträumt, denkt sie beim Aufwachen. Trotzdem cremt sie sich an diesem Morgen besonders sorgfältig ein. Sie lässt keinen Zentimeter und keine Delle ihres Körpers aus, der plötzlich so viel mehr sein könnte, als eine unvollkommene Hülle für Herz, Niere, Lunge und ein paar Meter Blutgefäße. 

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Kommentare: 6
  • #1

    Beate (Mittwoch, 03 November 2021 08:01)

    Liebe Susanne,

    danke für Deine schönen Gedanken!

    Ich nehme sie mit in meinen Tag!

    Alles Liebe,
    Beate

  • #2

    Claudia Hoerner (Donnerstag, 04 November 2021 21:00)

    Liebe Susanne,
    eigentlich wollte ich nur schauen, wie der Titel Ihres neuen Buches heißt.
    Und schon haben Sie mich wieder wunderbar überrascht.... ich liebe Ihre "kleinen, wahren Geschichten".
    Herrlich, wie Sie es schaffen, zeitlos aktuelle Themen und Bibelzitate in eine kurze,prägnante Handlung zu verpacken, die wie ein Film vor meinem geistigen Auge lebendig wird und dabei mein Herz ganz warm berührt. Übrigens ganz besonders gut gefällt mir, dass auch diese Geschichte wieder ein Ende mit positiver Stimmung hat. Das ist gerade in der heutigen Zeit so wichtig.
    Herzlichen Dank, liebe Susanne!
    Claudia

  • #3

    Gundolf (Samstag, 06 November 2021 08:00)

    Danke für die (wie immer) wunderbare Geschichte.
    Wäre es nicht #Selbstliebe, positiv zu beten:
    »Herr, Du schenkst mit Würde, wenn Du eingehst unter meinem Dach, du sprichst (nur) ein Wort und meine Seele wird gesund❣️« ?
    Ich bete das seit Jahren so.
    Bleib behütet und gesund❣️
    Grüße aus Berlin

  • #4

    Ute (Mittwoch, 10 November 2021 16:36)

    Lieber Gundolf,

    das ist eine wunderbare Idee das so zu beten.

  • #5

    ujott (Freitag, 26 November 2021 18:30)

    huch, jetzt habe ich ein Tränchen im Augenwinkel... danke für diese berührende Geschichte!

  • #6

    Sigrid (Sonntag, 28 November 2021 10:15)

    Aus Psalm 139:
    Ich danke dir, mein Gott, dass ich wunderbar gemacht bin;
    wunderbar sind deine Werke;
    das erkennt meine Seele.

 

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