Am Morgen jenes fernen Tages rasierte sich Zacharias sorgfältiger als sonst. An jenem Morgen zog er sein bestes Hemd an, das mit den Perlmuttknöpfen. Das hatte er lang nicht mehr gemacht.
Elisabeth sah ihn an und dachte, dass er alt geworden war. Ein alter Mann mit zwei Falten um den Mund und tiefer Melancholie im Blick. Ach du, dachte sie.
Im Haus war es still. Viel zu still. Zacharias räusperte sich, er konnte die Stille nicht gut ertragen. Hier hätten seine Enkel lachen sollen. Er hatte sich immer ein volles Haus gewünscht, kommen und gehen, klein und groß, Elisabeth und er, sie beide mittendrinn. Aber es war kein Kind gekommen. Kein einziges. Elisabeth wurde älter, ihre Versuche wurden routinierter und bekamen schließlich den Beigeschmack der Verzweiflung.
Elisabeth fühlte sich wund an, wundgehofft, und er fühlte sich schuldig. Und auch betrogen um ein Leben, das sie verdient hätten. Sie hörten auf, darüber zu reden. Und irgendwann hörte Zacharias auch auf, dafür zu beten. Denn auch Gott blieb stumm.
Zacharias war Priester, einer von Tausenden, aber immerhin nicht in einem verlorenen Dorf am Ende der Welt, sondern im Tempel. Im Zentrum. Da, wo immer etwas los war. Einer, der anderen Hoffnung machte, ohne selber noch Hoffnung zu haben. Aber er war gut darin. Er war wirklich gut.
An jenem Tag also war er an der Reihe, das Rauchopfer bringen. Deshalb das Hemd. Zacharias küsste Elisabeth flüchtig auf die Wange. „Bis später, Schatz.“
Im Tempel war es bereits voll. Pilgerinnen, Touristengruppen, Gläubige, Krimskramsverkäufer. Zacharias entdeckte ein paar bekannte Gesichter und setzte sein Priestergesicht auf. Warm und verbindlich. Er prüfte, ob die Kohlen glühten, der Weihrauch lag bereit. Die Zeremonie begann. Es wurde still. Zacharias sprach die Heiligen Worte, er kannte sie in und auswendig. Kurz schweifte er ab und dachte, dass er versprochen hatte, später Lammbraten zu besorgen, aber er holte sich zurück und versuchte, mehr Bewegtheit in seine Stimme zu legen. Dann ging er hinein ins Allerheiligste, dorthin durfte ihm niemand folgen. Hier war er allein mit Gott. Was für eine Vorstellung, dachte er. Und dann dachte er kurz, was er Gott sagen würde, wenn Gott wirklich hier wäre. Aber der Raum war leer, bis auf das Gold, das trotzdem glänzte. Stop, ermahnte Zacharias sich. Dies ist nicht der Ort für Zweifel.
Er nahm die Schale mit dem Weihrauch und sah den Engel. Unzweifelhaft stand er da, direkt neben dem Altar. Zacharias wollte etwas sagen, aber was?
„Hab keine Angst“, hörte er. „Euer Wunsch wird sich erfüllen. Elisabeth wird schwanger und ihr bekommt ein Kind und ihr werdet überglücklich sein.“
In Zacharias Kopf stürzte etwas ein. Jetzt hätte er jubeln müssen, hier war das Wunder, das er so lang herbeigesehnt hatte. Aber das einzige, was er dachte, war: Warum? Warum jetzt? All die Jahre, in denen wir so gehofft haben. In denen wir alles versuchten. In denen wir das Glück der anderen gesehen haben, all die vielen bitteren Jahre. Der mühsame Weg, abzuschließen. Und jetzt wieder anfangen? Von neuem anfangen zu hoffen? Zacharias spürte nichts.
„Wie kann ich mir sicher sein“, fragte er. „Wie kann ich wissen, dass es dieses Mal klappt, dass wir nicht wieder enttäuscht werden. Und wie soll das gehen? Es ist zu spät. Wir sind alt. Da wächst nichts mehr. Ich kann das auch nicht mehr, ich…“
„Still“, sagte der Engel und brachte Zacharias mit einer sanften Geste zum Schweigen. „Es liegt nicht an dir. Rede dir nichts ein. Das Leben wird wachsen.“ „Aber“, wollte Zacharias einwenden, tausend Abers lagen auf seiner Zunge. Aber sie kamen nicht raus. Kein einziges Aber kam über seine Lippen.
Draußen vor dem Tempel wunderten sie sich, wo Zacharias blieb. Als er schließlich herauskam, geschah etwas Merkwürdiges. Der Segen blieb ungesprochen. Als hätte es ihm die Sprache verschlagen. Zacharias schwieg und ging.
Er zog in einen Raum aus Stille. Neun Monate lang wohnte er darin. Neun lange Monate sprach er kein einziges Wort. Seine Stimme fing damit an. Sein Herz wurde ruhig. Die Zweifel verstummten. Irgendwann beruhigte sich auch der Zorn und sein wundgeglaubtes Herz erholte sich.
erzählt in der Wohnzimmerkirche
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Gundolf (Donnerstag, 22 Dezember 2022)
Ja, diese wunderbar erzählte Geschichte zeigt mir einmal mehr: es kommt anders
als du denkst,
als du hoffst,
als du erbittest.
Unerwartet.
Aber es kommt.
Wenn du nicht (mehr) damit rechnest.
Nichts ist berechenbar.
Aber: für Gott ist nichts unmöglich.
Fürchte dich nicht.
Und fürchtet euch nicht.
Bleibt gesund (oder werdet es) und behütet!
Allen ein gesegnetes Weihnachtsfest.
Christine (Mittwoch, 28 Dezember 2022 08:54)
Danke! Für die Hoffnung des Zacharias und den Kommentar von Gundolf.