Jesus streift durch die Felder und lässt seine Hand durch die Ähren gleiten. Ich weiß genau, wie sich das anfühlt und wonach es riecht: nach Staub und frischem Brot und nach zuende gehendem Sommer. Die Sonne steht tief, es ist Nachmittag und das Licht färbt seine Haut golden. Ich frage mich, ob ich genauso glänze wie er. Manchmal rauft er eine Ähre und pult die Körner raus. „Karge Ernte“, sage ich und wundere mich, denn es ist nicht sein Feld und nicht er war es, der gesät hat. Er schüttelte den Kopf. „Ich ernte nicht“, sagt er, während er auf einem Korn knabbert. „Ich habe keine Scheune, nicht mal einen Küchenschrank, in dem ich das Mehl lagern könnte. Ich habe nichts.“ Ich will widersprechen, will sagen: „Du hast eine Menge: Freunde und Unterstützerinnen, du hast Mut und Vertrauen, mehr als jeder Küchenschrank fassen könnte.“ Aber bevor ich den Mund öffne, schüttelt er den Kopf. „Ich möchte nichts haben“, sagt er leise und bestimmt. „Ich möchte leben und lieben, nehmen und geben, ich möchte mich verschwenden. Ich möchte sähen, während ich weitergehe, unterwegs möchte ich einer Blume Wasser geben und einem hungrigen Huhn ein paar Körner hinwerfen. Ich möchte teilen, was ich nicht besitze. Ich möchte Wörter sammeln und sie mir eine Zeitlang auf die Zunge legen, bevor ich sie an anderer Stelle wieder fallenlasse. Ich möchte mir etwas zu Herzen nehmen, ohne es festzuhalten.“ Seine Sätze berühren mich, sie sind so schlicht, ich will sie unbedingt behalten, da vibriert mein Handy und lenkt mich kurz ab. Eine Push-Up-Nachricht meldet fallende Aktienkurse. Ständig bekomme ich solche wichtigen Mitteilungen, ich weiß nicht, wie man die ausschaltet. Ich müsste es recherchieren, genau wie ich mehr über Aktien wissen müsste, wegen der Rente und auch, um mitreden zu können. Als ich das Handy wieder wegstecke, ist die Sonne hinterm Horizont verschwunden. Und auch der Glanz. Ich merke, dass ich Hunger habe. Jesus kramt in seinen Taschen und fischt eine halbe Tüte Salzlakritz heraus. Ich stecke mir zwei in den Mund, obwohl ich kein Lakritz mag. Aber in regelmäßigen Abständen probiere ich sie wieder, Vorlieben ändern sich. Früher konnte ich nicht genug von Bifi bekommen, das ist so eine Minisalami in Plastikhaut. Heute verursacht mir allein schon der Geruch Übelkeit. „Gut“, sagt Jesus, „dass du keinen Vorrat angelegt hast.“
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Anja (Mittwoch, 04 Oktober 2023 20:41)
Zauberbuchstaben, mit magischer Hand zu einem zauberhaften Geschichte verwoben. Dankeschön