Als am 24. Dezember der Krieg fortgesetzt werden soll, geht Marie in die Kommandozentrale des Heeres und sagt zu ihrem Gatten, dem General: »Hier, dein Kind.«
Sie legt den Säugling in seinen Arm, händigt ihm ein Fläschchen trinkwarme Milch, Windeln und ein Plüschkrokodil aus. Der General ist so überrascht, dass ihm kein einziger Befehl einfällt: »Aber wie stellst du dir das vor? Ich kann nicht, ich habe zu tun!«
»Ich auch«, erwidert Marie. »Du bist dran.«
Die Tür schließt sich hinter ihr, und da steht der General mit einer Packung Windeln und einem Plüschkrokodil und bevor er sich einen Überblick über die Lage verschaffen kann, beginnt das Kindlein erst zu jammern, dann zu schreien, sodass es dringend herauszufinden gilt, wie es zu beruhigen ist. Bei dieser Art von Lärm lässt sich unmöglich ein anständiger Krieg führen. Das Kind muss befriedet werden. Was nicht unbedingt zu den Kernaufgaben des Generals gehört. Außerdem kommt es sehr ungelegen. Krieg ist schließlich kein Kinderspielplatz und der Gegner wartet nicht, bis ein Säugling gewickelt ist.
Eine Tagesmutter aufzutreiben, erweist sich in der Eile als aussichtslose Mission. Tagesmütter gehören nicht zum Profil einer Armee, weswegen der General den Gefreiten Kösters zur Betreuung abkommandiert. Überraschenderweise ist der Gefreite nicht abkömmlich. Er hält bereits selber zwei Babys im Arm. Zwillinge, geboren am Nikolaustag. Überdies habe auch der Feind Probleme mit Babys. Ob man die Schlacht verschieben könne, am besten auf die Stunde während des Mittagsschlafs, dann allerdings ohne schweres Geschütz, um die Kleinen nicht zu wecken. Schlecht gelaunte Säuglinge stellen ein erhebliches Sicherheitsrisiko dar. An ein geordnetes Kriegsgeschehen ist nicht mehr zu denken. Aufklärer des Heeres bringen übereinstimmende Kunde: Sämtliche Frauen inner- und außerhalb der Landesgrenzen seien aufgebrochen und haben den Männern Babys in die Arme gedrückt: »Hier ist dein Kind. Hier ist deine Nichte, dein Neffe. Brüderchen und Schwesterchen.« Nach Angaben des Geheimdienstes liegen nun Hunderte, nein Tausende Säuglinge in Uniformsarmen, um gefüttert, gewickelt, gewiegt zu werden. Auch Terroristen und Söldner, so hört man, seien außer Gefecht gesetzt und haben alle Hände voll zu tun, um Milch zu wärmen und hungrige Münder zu stillen, sodass an einen anständigen Krieg überhaupt nicht mehr zu denken ist.
Der General ist außer sich. Auf eine derartige Situation ist er nicht vorbereitet. Es bräuchte einen Krisenstab, aber im Augenblick ist der General mit einer erheblich größeren Krise beschäftigt: Das Plüschkrokodil ist verschwunden, und wenn es nicht innerhalb der nächsten dreieinhalb Minuten wieder auftaucht, droht die Welt unterzugehen. Er weiß nicht, wo ihm der Kopf steht. Die Befehlskette funktioniert nicht mehr. Der Herrscher des Landes jagt gleich drei Säuglingen hinterher, die über das Muster seines seidenen Teppichs krabbeln. Sein Motto war immer: Je mehr Kinder, desto besser, und deshalb hatte er zur Sicherheit Cynthia, Olivia und Diane gleichzeitig befruchtet. Aber damals hatte er ja nicht ahnen können, wohin das führen würde. Dass er die Saat seiner Lenden nun plötzlich selbst an der Backe beziehungsweise in den Armen hatte. Von wo aus sie immer wieder entflutschte, es war schlicht unmöglich, drei Säuglinge gleichzeitig zu halten. Er brüllt, sein Berater möge erscheinen, aber plötzlich. Aber Brüllen ist keine gute Idee, weil die Babys direkt einstimmen. Der Lärm übertrifft jeden Tornado, und außerdem ist der Berater damit beschäftigt, seine eigene Zweijährige einzufangen, die gerade im Begriff ist, mit einer Handgranate Fußball zu spielen. Überall sind plötzlich Kinder, winzige, quirlige, sehr lebendige Kinder, dass man keine Hand mehr frei hat, um ein Maschinengewehr zu bedienen. Und niemand, wirklich niemand will seinen Platz im Panzer mit einem Säugling in voller Windel teilen.
Es ist ein Albtraum.
An Krieg ist wirklich nicht mehr zu denken.
Frohe Weihnachten.
aus: Der Stolperengel. 24 funkelnagelneue Weihnachtsgeschichten, Herder Verlag
mit llustrationen von Nina Hammerle
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Romanus (Donnerstag, 12 Dezember 2024 22:50)
Tolle Idee. Ach, wäre das doch möglich!
Petra (Samstag, 14 Dezember 2024 09:20)
Die Geschichte hat heute morgen mein Herz erfreut und mir ein lachendes und ein weinendes Auge beschert. Danke
Gundolf (Samstag, 14 Dezember 2024 22:13)
Super Idee, nicht nur für die Leitenden der Armeen der Welt, sondern auch für die Chefs aller Unternehmen, die sich ach so wichtig nehmen und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit unnötigen Besprechungen von der Arbeit abhalten.
Danke, liebe Susanne, und eine gesegnete restliche Adventszeit und ein tolles Weihnachtsfest.
Bleib gesund und behütet.
Diana Lange (Sonntag, 15 Dezember 2024 20:08)
Welch faszinierende Idee!
Es ist mir eine große Freude Ihre kleinen ver-rückten Geschichten zu lesen. Ich finde sie ganz wunder.
Barbara (Montag, 16 Dezember 2024 16:59)
Danke für diese wunderbare Geschiche.
Ich werde auf sie am 24. Dezember in meinem digitalen Adventskalender verweisen.
Nicht auszudenken, was wäre, wenn an Krieg wirklch nicht mehr zu denken wäre!!!
Anna-Miriam (Dienstag, 17 Dezember 2024 12:16)
:-D
Das bringt mich zum Schmunzeln und Lachen!
Wiltrud (Donnerstag, 19 Dezember 2024 17:58)
Das wäre eine fantastische Idee. Also, Frauen - wo hängt's?